Es ist beachtenswert wie schnell und kreativ viele Gastronomen in der Corona-Krise agieren. Binnen weniger Tage und Wochen ist ein großes und vielschichtiges Angebot entstanden, auf das Gäste anerkennend reagieren und dieses gut annehmen.
Diverse Lieferservices, Gutschein-Angebote, Abholmöglichkeiten und Genuss-Pakete gibt es in den verschiedenen Häusern und auf diversen Plattformen, wie zum Beispiel auf der Website der Jeunes Restaurateurs d’Europe (JRE) oder auf der Plattform Local Food-Lovers von Schott Zwiesel aber auch von anderen Anbeitern.
Auch digitale Weinproben, Koch-Live-Streams, Videos oder Podcasts sind von und für Gastronomen entstanden und schaffen eine neue digitale Sichtbarkeit.
Mittlerweile haben sich auch einige Branchenverbände, die anfangs gefühlt in einer Schockstarre verharrten, zu Wort gemeldet.
Zu nennen ist zum Beispiel das breite Bündnis #restartGastro, das aus Gastronomen, Lieferanten, Produzenten und anderen Gastro-Partnern besteht und in einem offenen Brief an die Bundesregierung appelliert und mit einer Petition an die Öffentlichkeit gegangen ist. #restartGasto forderte eine Umsatzsteuer von 7 Prozent auf gastronomische Angebote (die es bereits für Speisen zum Mitnehmen gibt) und ruft dazu auf, die Gastronomie bei Konzepten für den Neustart der Wirtschaft zu berücksichtigen.
Mit der Herabsenkung der Umsatzsteuer auf 7% – wenn auch nur befristet für ein Jahr – wurde eine der Grundforderungen bereits erfüllt.
Aber reichen die momentanen Forderungen aus?
Im Vergleich zu dem einfallsreichen Angebot, das viele Gastwirte aus dem Hut gezaubert haben, wirken die aktuellen Initiativen ein wenig fantasielos, auch weil sie nicht neu sind.
Wäre nicht jetzt der Zeitpunkt, neue Wege zu gehen? Visionen miteinander zu diskutieren? In ein konstruktives Streitgespräch zu gehen? Denn:
Die Fortschreibung der Vergangenheit ist nicht unsere Zukunft.
Harry Gatterer
Wenn ein Koch oder eine Köchin ein Gericht kreieren sollte, das den Titel „Zukunft dekonstruiert“ trüge, wie sähe es wohl aus?
Gastronomen haben schon immer mit ihren Gerichten und Events Geschichten erzählt. Wie wäre es, wenn sie jetzt das Narrativ der Krise nutzten?
Mit der Corona-Krise assoziieren wir ja bereits diverse positive Zukunftsbilder (ohne hier die gravierenden negativen Auswirkungen herunterspielen zu wollen), wie die musizierenden Italiener auf ihren Balkonen (sozialer Zusammenhalt), zurückkehrende Delfine in den Kanälen Venedigs (Naturschutz) und smogreduzierte Städte in China (Klimarettung).
Wenn das Virus dies kann, können wir es möglicherweise auch, denn Zukunft ist eine Vorstellung, die durch kollektive Kommunikation über Bedeutung entsteht!
Vielleicht war das Virus ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt. Aber sie kann sich neu erfinden.
Quelle: Zukunftsinstitut
An den Tischen der Gasthäuser waren Politik und Gesellschaft und deren Rolle für die Zukunft schon immer Thema. Jetzt, wo ein Stammtisch nicht möglich ist, sich der Diskurs auf überdrüssige Weise in Social Media darstellt und Videokonferenzen en masse anstrengend sind, findet das (Telefon-) Gespräch „unter vier Ohren“ – bilateral statt. Der Diskurs sollte aber kollektiv geführt werden, damit wir Szenarien für die Zukunft skizzieren können.
Positive Aspekte der Krise müssen aufgezeigt und visionär dargestellt werden, zum Beispiel:
- mehr Zeit für die Familie, für ehrenamtliches Engagement oder Kreativität;
- Entschleunigung und Bewusstsein für die wirklich wichtigen Dinge im Leben;
- Anerkennung für die Leistungen der Menschen und gegenseitige Unterstützung;
- eine grundlegende finanzielle Absicherung
In Bezug auf die Gastronomie wären das weitere Aspekte wie:
- Essen und Esskultur wird momentan als Totalphänomen wahrgenommen; also als Phänomen, das eng mit der Gesellschaft verwoben ist;
- gemeinsame Zeit, die mit kochen und essen verbracht wird, erzeugt gerade jetzt eine neue Wertschätzung für die Qualität der Produkte und die Zeit, die für das Kochen und Essen nötig ist;
- die regionalen Netzwerke und Betriebe, die jetzt unterstütz werden;
- die Verwobenheit der Gastronomie durch viele Wirtschaftszweige wird sichtbar.
Über diese Bedeutung der Gegenwart sollten wir für die Zukunft kommunizieren, damit die individuelle Vorstellung über Zukunft nicht in jedem Einzelnen verbleibt, sondern ein gemeinsames Bild geschaffen wird.
Denn wenn wir schweigen, überlassen wir es der Politik die Krise zu bearbeiten und können nach der Bewältigung viel schwieriger Innovationen vorantreiben.
Die Bürger werden eines Tages nicht nur die Worte und Taten der Politiker zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der Mehrheit.
Bertolt Brecht
Wir gestalten unsere Zukunft neu, wenn wir es wollen: now is the time.
Was viele Gastwirte fordern ist, dass die Regierung Leitplanken vorgibt, wann es in welcher Form wieder weiter gehen kann.
Aber was wäre, wenn
- sich die Gastwirte, Lebensmittelproduzenten, Politik und Gäste virtuell zusammenschließen könnte und gemeinsam Szenarien für die Gastronomie der Zukunft entwickelten?
- die Trends, die aufgrund von Corona entstehen, zusammengetragen und diskutiert würden?
- man gemeinsam die Krise als Chance zur Veränderung begreifen würde?
- man nicht kurzfristig auf Handlungsmöglichkeiten warten würde, sondern den Gestaltungsrahmen weit öffnen würde?
Ist die Gastronomie systemrelevant?
Apropos Systemrelevanz, ein Begriff, den man vor Corona aus der Bankenkrise kannte. Er besagte, dass Banken systemrelevant sind, wenn ihr Zusammenbruch das Funktionieren des globalen Finanzsystems und der Realwirtschaft gravierend beeinträchtigen würde.
Der Zusammenbruch der Restaurants, Kneipen und Bars wäre ein Zusammenbruch einer Kultur des Genusses und der Kommunikation – die Welt wäre ärmer. Also ist die Gastronomie systemrelevant.
Zumal ein naturwissenschaftliches Gesetzt lautet: Wenn man ein Element in einem System ändert, dann ändert sich per se das System als Ganzes.
Und unser System ändert sich momentan; deswegen sollten wir es proaktiv mitgestalten, als Gäste die Initiativen, das Angebot und die Ideen der Gastronomie unterstützen und als Branche Neues diskutieren.